An Wunder glauben

Es gibt in Israel doch noch Publizisten, die an Wunder zu glauben scheinen. Ori Wertmann schreibt in der Times of Israel über die israelische Labour-Party, die Avoda. Er glaubt (wirklich), daß mit einem anderen Vorsitzenden und dem Rauswurf von Peretz die Partei noch einmal an Bedeutung im Land gewinnen könne.

Ob die nächste Knesset nicht viel eher die erste sein wird, in der die Arbeitspartei nicht mehr vertreten sein wird?

Aktuelles Briefing im VN-Sicherheitsrat

25. AUgust 2020 – In seinem heutigen Briefing an den Sicherheitsrat zur Situation im Nahen Osten begrüßte der VN-Sonderbeauftragte für den Nahost-Friedensprozeß, Nickolay Mladenov, das zwischen der Regierung Israels und der der Vereinigten Arabischen Emirate erreichte Abkommen.

Damit wäre der Plan der israelischen Regierung, Teile des Westjordanlandes zu annektieren, zwar gestoppt, aber die Befürchtung vor regionaler Instabilität bliebe bestehen. Insbesondere wies Mladenov auf die desolate wirtschaftliche Lage Palästinas und die Eskalation zwischen Gaza und Israel hin. Angesichts der Krisen auch in den Nachbarstaaten sei es unbedingt erforderlich, daß Israel und die palästinensische Führung ihre sicherheitspolitische Koordination wieder aufnähmen.

Durchbruch oder Verrat?

Die Ereignisse im Nahen Osten nehmen wieder eine spannende Wendung. Die angekündigten, „normalisierten“ Beziehungen Israels zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) gilt den einen als Durchbruch gegen die Isolierung Israels in der Region, den anderen als Verrat an der „pan“-arabischen Front einer Solidarität mit den Palästinensern, beides ist im übrigen auch zugleich möglich.

Welche Bedeutung haben die Ereignisse und Entwicklungen: Innerisraelisch, wo schon wieder über Neuwahlen geredet wird, [Hat Netanyahu einen echten Preis bezahlt für die Beziehungen mit Blick auf die Siedlerszene?], innerpalästinensisch, wo die traditionelle Führung wieder einmal als wenig handlungsfähig erscheint [Was bedeuten z.B. die guten Beziehungen von M. Dahlan in die VAE jetzt und für eine neue Führung?] – Gilt die Formel Land for Peace noch? … Und viele weitere Fragen.

Mitvim, das Israeli Institute for Regional Foreign Policies, hatte am 17. August 2020 zu einer online-Konferenz geladen, die jetzt auch (englisch) nachgehört werden kann und hilfreiche Einblicke für die Einordnung gibt.

Wie weiter mit Israels Regierung … ?

Wie ist der Stand und wie geht es weiter in der Regierungsbildung in Israel?

Es geht nicht voran. Die bisherigen Versuche der beiden stärksten Wahlplattformen, nach den Wahlen am 17. September eine neue Regierung zu bilden, sind bisher gescheitert.

Netanyahu’s turn is counting down without any progress – Analysis

Seit April scheint das Land auf den beiden Polen Likud – Blau-Weiß zu verharren.

Will der noch amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (Likud) seine ihm vom Staatspräsidenten Reuven Rivlin übertragene Aufgabe, die neue Regierung zu bilden, fristgerecht erfüllen, so muss die handlungsfähige Koalition bis zum 24.10. stehen. Schafft Netanjahu das nicht, hat aber die berechtigte Aussicht, doch noch ausreichend Partner für eine handlungsfähige Regierung zu gewinnen, kann der Präsident ihm weitere 14 Tage Zeit gewähren.

Alternativ steht hingegen das Bündnis Blau-Weiß (Kahol Lawan) bereit, eine Koalition mit der von Avigdor Liberman geführten Partei Unser Haus Israel (Jisrael Beijtenu) einzugehen und notfalls eine Minderheitsregierung zu bilden.

Gantz reportedly looking to form minority government with Liberman’s backing

Netanjahu tritt bereits dagegen auf, sieht in einer möglichen Duldung der Minderheitsregierung durch die drittstärkste Kraft, die mehrheitlich von arabischen Staatsbürgern Israels getragene Gemeinsame Liste (ha-Rschimah ha-M:uchedet) eine Gefährdung der Sicherheit („Establishing a minority government that relies on the Joint List is an anti-Zionist act that endangers our security”).

Netanyahu: Gantz planning government with backing of ‘dangerous’ Arab parties

Betrachtet man die bisherigen Versuche der Regierungsbildung, zeichnet sich ab, dass die von religiös-nationalen und radikalen Zionisten getragenen Parteien und Gruppierungen bei der Regierungsbildung bisher keine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Auch die Allianz Netanjahus mit orthodoxen jüdischen Parteien zeigt Sprünge.

Will Netanyahu’s ultra-Orthodox allies jump ship?

Ohne die inneren politischen Widersprüche nicht zu realisieren, die sozialen und Klassenunterschiede zu unterminieren sowie Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen in Politik und Alltag Israels zu vergessen, so zeichnet sich doch ab, dass die nationale Minderheit der arabischen Staatsbürger Israels in dieser Phase der Ausprägung des politischen Systems in Israel zunehmend gesammelter und erstarkter auftritt.

Neues Ergebnis – Neue Politik?

Das Ergebnis der zweiten israelischen Parlamentswahlen im Jahr 2019 steht fest. Ob sich überhaupt Gesichter verändern dagegen noch nicht. Ob andere Gesichter auch einen andere Politik bedeuten, noch viel weniger.

Eine Liste der gewählten Abgeordneten findet sich hier.

Auch wenn es die Labourparty in einer neuen politischen Verbindung ins Parlament geschafft hat, lohnt die Lektüre eines Artikels von Lev Grinberg im online Magazin +972 über die politischen Perspektiven von Linken und Mizrachi im Land: Israel’s Ashkenazi elites won’t let Mizrahim lead the left. Viel zu sagen hat die Linke im Land (und im Parlament) aktuell aber sowieso nicht…).

Immerhin ist Otzma Yehudit, eine kahanistische Partei an der Sperrklausel gescheitert. Ob deren Gedanken damit politisch tot sind, wird sich zeigen. Die nächsten Wochen werden vermutlich spannend werden und die Fragen von Säkularismus und Messianismus stehen auf der Tagesordnung. Ob auf der auch eine Zeile für Palästinenser bleibt, ist nicht ausgemacht …

Konfliktgegenstand Jerusalem

In ihrem neuen Bericht zum Israel-Palästina-Konflikt analysiert die renommierte International Crisis Group (ICG) die Politik der israelischen Regierung zu Ost-Jerusalem. Mit Plänen zur stärkeren Implementierung weiterer Teile Ostjerusalems in die Strukturen des israelischen Staatssystems, einer „de facto annexation of most of occupied East Jerusalem“ (ICG im Report), würde neues Konfliktpotential entstehen. Die im September 2019 neu zu wählende israelische Regierung Israels sollte diese Vorhaben beiseitelegen, schlußfolgert die ICG International Crisis Group.

Report 202 / Middle East & North Africa 12 June 2019
Reversing Israel’s Deepening Annexation of Occupied East Jerusalem

Danach IV – Reflektionen aus Nes Ammim

Von Tobias Kriener, Pfr. in Nes Ammim und langjährigem diAk-Vorstand


Wahlen in Israel – und in Nes Ammim

Um Mitternacht 2 Tage nach der Wahl verkündete die israelische Wahlkommission ihr Endergebnis – das aber immer noch kein endgültiges Ergebnis ist. Vor allem die Partei ‚HaJamin HeChadasch‘ (Die Neue Rechte) zweifelt das Wahlergebnis noch an, da sie nach diesem Ergebnis um exakt 1.462 Stimmen unter der 3,25%-Hürde läge.

Klar ist allerdings, wer die Wahl gewonnen hat: Benjamin Netanjahu kann seine 5. Regierung bilden. Zusammen mit seinen ’natürlichen Koalitionspartnern‘ – d.h. den rechtsradikalen und ultraorthodoxen Parteien (nein – es stimmt nicht zu 100%: es gibt doch immerhin eine gemäßigt rechte Partei in der voraussichtlichen Koalition neben zwei rechtsradikalen und zwei ultraorthodoxen; wir wollen Israel nicht schlechter machen als es leider ohnehin schon ist; aber außer der Partei ‚Kulanu‘ (Wir alle) sind alle gemäßigt Rechten bei der größten Oppositionslistenverbindung gelandet, bei ‚Kachol-Lawan‘ (Blau-Weiß) …) – kann er auf 65 der 120 Knesset-Mandate zählen. Die Koalitionsverhandlungen werden noch brutal werden. Ihr Thema: Immunität (nämlich Netanjahus vor Strafverfolgung wegen Bestechlichkeit und Untreue) gegen Annexion großer Teile der besetzen Westbank. Aber das wird sich in aller epischen Breite in den nächsten Wochen entwickeln.

Ich will meine geschätzte Leserschaft nicht mit politischen Analysen und Spekulationen langweilen – die könnt Ihr selber in Hülle und Fülle im Netz finden; ich empfehle natürlich besonders Ha’aretz„, die rennomierteste – d. h. genauer gesagt: die einzig verbliebene renommierte – Tageszeitung Israels. Ich beschränkte mich auf ein paar sehr persönliche Bemerkungen.

Diesen Wahltag – den Festtag der Demokratie, wie er bei uns manchmal genannt wird – erlebte ich in der besetzten Westbank. Natürlich hing ich den ganzen Tag an meinem Smartphone, wo die Bilder zu sehen waren, die ich von Wahltagen bei uns kenne: Die Kandidat_innen der verschiedenen Parteien und Listenverbindungen stehen in einem Schulraum und werfen ihren Wahlzettel in die Urne. Derweil fuhr unser Minibus durch Checkpoints und an Wachtürmen und Mauern vorbei. Zum ersten Mal benutzen wir die neue ‚Apartheidstraße‘, die die Reisezeit von Beit Jala südlich von Jerusalem nach Ramallah nördlich von Jerusalem um mindestens 45 Minuten verkürzt. Da Palästinenser_innen aus der Westbank der Zugang nach Jerusalem ohne besonderen ‚Permit‘ nicht möglich ist, müssen sie einen riesigen Umweg durch die judäische Wüste fahren; dieser Umweg ist durch die vor wenigen Wochen eröffnete Straße drastisch verkürzt worden und macht den Palästinenser_innen das Leben ein wenig leichter. ‚ApartheidstraßeÄ wird sie genannt, weil die vier Fahrspuren in der Mitte durch eine mehr als zehn Meter hohe Mauer voneinander getrennt sind: Auf der einen Seite fahren die Palästinenerser_innen – auf der anderen Seite der Mauer die jüdischen Israelis zu den Siedlungen nördlich von Jerusalem: Eine groteske Konstruktion – aber konsequentes Monument der israelischen Politik in der Westbank.

Auf diese Weise war mir den ganzen Tag höchst bewusst, was für eine ’spezielle‘ Demokratie Israel ist: Während die israelischen Staatsbürger_innen – jüdische wie arabisch-palästinensiche, drusische und wer noch immer – nach allen Regeln westlich-demokratischer Kunst und mit all den vertrauten Ritualen und Symbolen eine relativ (zu den rassistischen Begleiterscheinungen im Wahlkampf und am Wahltag komme ich noch) faire Wahl durchführen, übt derselbe Staat wenige Meter weiter seit nun bald 52 Jahren eine drakonische Militärdiktatur über mehrere Millionen aller Rechte beraubter Palästinenser_innen aus. Möglich war mir bislang, Israel das immer noch abzukaufen, weil sehr raffiniert der Schein aufrecht erhalten wurde, die Besatzung sei ein zeitweiliger Zustand bis zu Erreichung einer politischen Regelung zwischen Israel und den Palästinensern. Ich denke, mit dieser Wahl ist das erledigt: Benjamin Netanjahu hat wenige Tage vor der Wahl angekündigt, man werde jetzt den nächsten Schritt tun und Teile der Westbank hochoffiziell annektieren. Man mag natürlich glauben, dass sei nur Wahlkampfgetöse, und es werde schon nicht so heiß gegessen werden wie gekocht. Aber nachdem die Schutzmacht Israels USA (oder soll man sagen: der Pate Israels, Donald Trump …) mitten im Wahlkampf die israelische Annektion der Golanhöhen von 1981 anerkannt hat, wird der Hunger der Annektionisten innerhalb und außerhalb des Likud kaum noch mit leeren Floskeln stillzustellen sein …

Dass Netanjahu gewonnen hat, war keine Überraschung – das zeichnete sich bereits in den Umfragen in den letzten Wochen vor der Wahl ab. Überrascht hat mich eher, wie knapp es am Ende doch noch ausgegangen ist. Aber es war völlig klar, dass der Gegenkandidat Benny Gantz, ehemaliger Generalstabschef und Kopf des Wahlbündnisses ‚Blau-Weiß‘, keinerlei Machtoption hatte, nachdem er bereits zu Beginn des Wahlkampfes jede Zusammenarbeit mit den sog. ‚arabischen“ Parteien ausgeschlossen hatte: Ein Reflex auf den Vorwurf Netanjahus, Gantz sei in Wirklichkeit ein Linker, der mit Hilfe der Araber Israel zerstören wolle. Ein plumpes Manöver – das aber zuverlässig sein Ziel erreichte: Panische Dementis, denn ‚links‘ ist in Israel inzwischen ein Synonym für ‚Verräter‘ – und die arabisch-palästinensischen Staatsbürger Israels sind die Feinde, denen man auf keinen Fall auch nur einen Zipfel der Macht anvertrauen darf. Es gab keine Zahlenkombination oder -spekulation, die Gantz aus dieser Falle hätte heraus helfen können. Das Maximalziel, das er hätte erreichen können, wäre gewesen, die Bildung einer rechten Mehrheit zu verhindern – und dann darauf hoffen, aus dem rechten Block die eine oder andere Partei herauszubrechen, um doch noch zu einer Mehrheit ohne Araber zu kommen.  Diese Illusionen waren bereits mit den ersten Prognosen am Abend des Wahltages erledigt.

Ich finde das keinen Grund zu trauern – wie viele linke Israelis das jetzt tun –, denn was war eigentlich die Alternative, die Gantz zu bieten hatte: Auf den ersten 4 Plätzen seiner Liste finden sich drei ehemalige Generalstabschefs – also Oberbefehlshaber der Armee, die die Besatzung seit 52 Jahren organisiert, die die Menschenrechte der Palästinenser_innen tagtäglich mit Füßen tritt, die weitgehend Vollzugorgan der Wünsche und Forderungen der Siedler ist – und die die israelische Öffentlichkeit systematisch über die Zustände und die Ereignisse in den besetzten Gebieten belügt. Diese Macho-Combo hat sorgfältig vermieden, irgendeine Aussage zu einer Option für eine Verhandlungslösung mit den Palästienser_innen zu treffen. Einziger Programmpunkt war die Ablösung Netanjahus.

Das Einzige, was man ihr zu Gute halten kann, ist, dass sie sich anständiger verhalten haben und nicht versucht haben, bei der Schlammschlacht mitzuhalten, bei der sie Netanjahu ohnehin das Wasser niemals hätten reichen können. So ist ihre kategorische Ablehnung jedes Gedankens an eine Einbeziehung von Arabern in den politischen Prozess eben ein ‚vornehmer‘ Rassismus; dass viele palästinensische Israelis ihnen das nicht gedankt haben und der Wahl ferngeblieben sind – was ihnen jetzt von manchen vorgeworfen wird: sie hätten damit Netanjahu wieder zur Macht verholfen – kann ich ihnen nicht verdenken …

Nein – ich stimme dem Kommentar von Gideon Levi zum Ausgang der Wahl zu:

„If there’s one place Benny Gantz has to go immediately, it’s to a town near his home, Kafr Qasem, to bow his head and beg the forgiveness of this country’s Arab citizens, whose representatives he has insulted. Gantz lost his chance to win in part because he distanced himself from this community and humiliated them as if they were lepers, just as Netanyahu did. The revenge of the Arab voters is the punishment we all got. Maybe it’s not punishment. Maybe the truth is preferable. … Maybe it’s for the best.“

Die einzige Genugtuung, die mir das Wahlergebnis verschaffte, war, dass zwei rechtsradikale Parteien es nicht geschafft haben (was der Grund dafür ist, dass Netanjahu nicht mehr als 65 Knessetmandate auf seiner Seite hat): der politische Hanswurst Mosche Feiglin ist verdienter maßen weit unter der 3,25% Hürde geblieben. Und allem Anschein nach (aber da muss man noch bis nächsten Mittwoch warten, bis das endgültig geklärt ist) ist auch die ‚Neue Rechte‘ gescheitert.

Das erfüllt mich mit ganz besonderer Schadenfreude. Denn diese neue Partei ist von den beiden smarten (oder sich jedenfalls für smart haltenden) Ministern für Erziehung und Bildung (Naftali Bennet) und für Justiz (Ajelet Schaked) gegründet worden, nachdem sie Ende letzten Jahres aus der Siedlerpartei ‚HaBajit Hajehudi‘ (Das jüdische Heim) ausgetreten waren: Sie wollten sich des Ballasts der primitiven nationalreligiösen Hooligans entledigen, weil sie höhere Ziele im Auge hatten: nach Netanjahus erhofftem Abgang in’s Gefängnis selber den Likud und das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen – besonders der eiskalten Schönheit Ajelet Schaked wurde das unterstellt und zugetraut. Sie ließen sich von irgendeinem Spin-Doktor 8-12 Mandate hochrechnen – in der Hoffnung, damit die stärkste Siedlerpartei zu werden (und eventuell die Hooligans sogar aus der Knesset drängen zu können).

Es kam anders – nicht zuletzt, weil die Hooligans – auf Druck Netanjahus höchstpersönlich – sich mit den offen rassistischen Anhängern des ermordeten Meir Kahane zur ‚Vereinigten Rechten‘ zusammentaten: Nun sitzen die Hooligans wieder im Parlament, während die gestylten Faschisten erst einmal abwarten müssen. Für Bennet – so die allgemeine Einschätzung – könnte das das Ende seiner Politik-Karriere bedeuten; von Schaked nimmt man an, dass sie irgendwann ein Comeback hinlegen und doch noch Minsterpräsidentin werden wird.

Jedenfalls hofft das ‚unser‘ Siedler Rafi Ostrof in Alon Schwut, das wir am Tag nach der Wahl besuchten – bei jedem Westbankseminar unverzichtbare Station, um auch den Standpunkt der Siedler kennen zu lernen. Rafi äußerte sich zufrieden, dass Mosche Feiglin es nicht geschafft hat – sein Programm ist ihm zu kapitalistisch; er ist mehr für ‚Sozialismus‘ – naja, Sozialismus … sagen wir mal:  jedenfalls für staatliche Unterstützung der Siedlungen; und Feiglins Programm der totalen Libertarismus passt da gar nicht … Aber das Scheitern der Neuen Rechten bedauerte er ausdrücklich – und hofft darauf, dass Schaked zurück kommt und eines Tages Israels zweite Minsterpräsidentin wird – was er im Übrigen auch für einen großen Fortschritt für die Frauen halten würde …

Man muss dafür wissen, dass Alon Schwut als Hochburg von ‚gemäßigten‘ Siedlern gilt: in der Einzelanalyse der Wahlergebnisse zeigt sich das darin, dass dort die Neue Rechte besser abschnitt als die Vereinigte Rechte – anders als etwa in Beit El, wo die Hooligans 71 % der Stimmen bekamen – und die sich intellektuell gebenden, in Anzug und Kostüm auftretenden Faschisten nur 9 %.

Aber ich denke, man darf dieser Unterscheidung zwischen ‚radikaleren‘ und ‚gemäßigteren‘ Siedlern nicht auf den Leim gehen: Bennet und Schaked reißen keine Olivenbäume aus und werfen keine Steine auf Beduinen, die in der Nähe von Siedlungen ihre Schafe weiden – sie wohnen beide nicht einmal in einer Siedlung, sondern ausgerechnet in Ra’anana (Bennet) und Tel Aviv (Schaked) – also in Meretz-Land … Aber mit ihrem Umbau des Erziehungswesens und der Unis bzw. des Justizwesens betätigen sie sich zielgerichtet als Totengräber der israelischen Demokratie.

Schaked hat ihre faschistische Geisteshaltung offen ausgesprochen, als sie vor zwei Jahren auf die Entscheidung des Obersten Gerichts, mit der ein Gesetz der Regierung, nach dem afrikanische Asylbewerber, die nicht freiwillig das Land verlassen, unbegrenzt inhaftiert werden sollten, aufgehoben wurde, so kommentierte:

„Der Zionismus sollte nicht und wird nicht weiterhin vor dem System individueller Rechte in seiner universellen Auslegung in die Knie gehen.“ („Zionism should not and will not continue to bow down to the system of individual rights interpreted in a universal way.“)

Rogel Alpher von Ha’aretz hat in einem Vergleich mit Äußerungen von Benito Mussolini Punkt für Punkt gezeigt, dass Schaked die Weltsicht des Faschismus teilt:

„Don’t call the justice minister a fascist metaphorically, as hyperbole or a provocation – call her that because it’s literally what she is.“

Es ist keine Dummheit gewesen, auch keine verunglückte Satire, dass sie sich in einem Wahlspot mit einem Parfum einsprühte, dass ‚Fascism‘ heißt: Dieser Flirt mit dem Faschismus ist ernst gemeint. Und der Versuch, Faschismus als ‚wahre Demokratie‘ zu verkaufen, ist aus der Geschichte nur zu gut bekannt …

Soviel zu einem der größten politischen Talente, die Israel derzeit zu bieten hat; die Genugtuung über ihr Scheitern ist aller Voraussicht nach nur vorläufig und deshalb nur ein billiger Trost …

Zumal ich gleichzeitig natürlich immer noch fassungslos bin, zu welchen rassistischen Niederungen Netanjahus Likud fähig war: Am Wahltag wurden ihre Wahlbeobachter in arabischen Wahllokalen mit versteckten Kameras losgeschickt – angeblich, um sicherzustellen, dass dort alles mit Rechten Dingen zugeht. (Man muss sich mal vorstellen, die CDU würde ihre Vertreter in Wahllokalen in Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh mit versteckten Kameras ausstatten, weil man ‚den Ausländern‘ unterstellt, sie würden die Wahl manipulieren …). In Wirklichkeit rühmte sich der Chef der Wahlkampfagentur des Likud, der sich das ausgedacht hatte, nachher offen, man habe dadurch die Araber so eingeschüchtert, dass sie der Wahl in großer Zahl fern geblieben seien. Es gab keinen miesen Trick, keine niederträchtige Masche, die Netanjahu in diesem Wahlkampf bis in den Wahltag hinein nicht benutzt hätte. Einen widerlicheren Wahlsieger habe ich noch nicht erlebt – na gut, Donald Trump, der ‚Pussy-Graber‘, kann mithalten, das muss ich zugeben …

Spannend wird sein zu sehen, was passiert, wenn Israel tatsächlich Teile der Westbank annektiert. In diesem Zusammenhang war die Einschätzung von Herrn Kinne vom deutschen Vertretungsbüro in Ramallah interessant, mit dem wir am Wahltag ein Gespräch hatten: Er meinte, Europa müsse dann überlegen, ob man an Israel einen anderen Maßstab anlegen könne als an Russland nach der Annektion der Krim – d.h. eigentlich wären dann Sanktionen fällig. Und: Die osteuropäischen Staaten, die Netanjahu in den letzten Jahren versucht hat, gegen die israelkritische EU-Außenpolitik auszuspielen, hätten sich nach der Anerkennung der Annektion des Golan durch Trump wieder sehr dem EU-Konsens angenähert: Annektionen anerkennen – das kommt in Osteuropa nach den Erfahrungen mit der Sowjetunion gar nicht gut …

Auf dem Hintergrund dieses Wahlkampfs und dieses Wahlausgangs ist das eigentlich Traurige das Abstimmungsergebnis hier in Nes Ammim: Von 176 abgegebenen Stimmen erhielt Kachol-Lawan 89 – also knapp mehr als 50 %. Das sieht auf den ersten Blick natürlich besser aus als das landesweite Ergebnis – aber was das inhaltlich heißt – s.o.

Die zweitmeisten Stimmen in unserem Dorf des Dialogs erhielt – der Likud: 33. Danach Labour: 19

Meretz – die einzige zionistische Partei, die es wagt, sich links zu nennen, und die an 4. und 5. Stelle einen arabisch-palästinensischen und einen drusischen Kandidaten auf der Liste hatte – also eigentlich die Partei, mit deren Sympathisanten man ein ‚gemischtes Dorf‘ aufbauen könnte – ganze acht Stimmen!

Chadasch-Ta’al – die früheren Kommunisten mit ebenfalls einer gemischten Liste – diesmal nur andersherum: der erste jüdische Kandidat an 5. Stelle: ganze vier Stimmen (vermutlich von den wenigen arabischen Bewohner_innen Nes Ammims).

Aber für die offen araberfeindlichen Parteien Neue Rechte (5) und „Jisrael Beiteinu“ (Israel, unser Heim – Avigdor Liebermans sich vornehmlich an Einwanderer aus der früheren Sowjetunion wendende, extrem araberfeinliche Partei) (3) und selbst für Mosche Feiglins ‚Sehut‘ (Identität) (1) stimmten neu Bewohner Nes Ammims – mehr als für Meretz!

Für Kulanu (8) und „Gescher “ (Brücke) (6), zwei gemäßigt rechte Parteien (’natürliche‘ Koalitionspartner des Likud – nur dass Gescher es nicht über die 3,25 %-Hürde geschafft hat), stimmten weitere 14 Nes Ammimer.

Keine Stimmen wurden abgegeben für die Ultraorthodoxen Parteien, für die Hooligan-Siedler von der Vereinigten Rechten und für die konservativ-religiöse arabische Liste von Balad-Ra’am.

Das nimmt einem endgültig die letzten Illusionen, wer unsere Nachbarn sind, und was im Blick auf die Gestaltung z. B. der geplanten Erweiterung des Dorfes mit ihnen vorstellbar ist: Mit acht Meretz-Sympathisant_innen, vier Chadasch-Wähler_innen (und mit viel gutem Willen kann man vielleicht noch die 19 Labour-Anhänger dazu zählen) lässt sich gegenüber dem Mitte-Rechten Übergewicht kein gemischtes Dorf, schon gar kein bilinguale Schule oder so etwas vorstellen. Ich denke, wir werden uns eher darauf einstellen müssen, dass in den kommenden Jahren die Anfragen an unsere Arbeit und daran, was denn die vielen Araber_innen in den Dialoggruppen hier wollen, vernehmlicher werden …

Den Schlusspunkt unter dieses Debakel der ‚einzigen Demokratie im Nahen Osten‘ setzte ziemlich genau zeitgleich mit der vorläufigen Verkündung des Wahlergebnisses um Mitternacht die Bruchlandung der israelischen Mondsonde ‚Bereshit‘ (Am Anfang – Das erste Wort des Buches Genesis). Wenn das nicht Ironie des Schicksals ist …

Aber es soll nicht verschwiegen werden: Es gab am Wahltag auch eine gute Nachricht aus dem Nahen Osten: Der per Haftbefehl wegen Völkermords vom Internationalen Gerichtshof gesuchte Diktator Sudans, Omar el-Baschir, wurde gestürzt – leider vom Militär, was für den weiteren Fortgang der Ereignisse im Sudan noch nicht viel Gutes erwarten lässt. Immerhin ist ein weiterer Schlächter in der langen Reihe der orientalischen Despoten von der Macht entfernt worden. Und das ist erst einmal Grund zur Freude …

Tobias Kriener, 12. April 2019

 

 

Danach III – wichiger denn je …

Ein anderes Gedenken: The Israeli-Palestinian Memorial Day Ceremony
More information about the Live-Stream of the Joint Israeli-Palestinian Memorial Day Ceremony in Berlin will follow. Save the date! 7. Mai 2019 | 19:30,
Bildungswerk Berlin der Heinrich Böll Stiftung.
If you wish to host a live stream of your own and need the link or assistance:
# Please feel free to contact the German Friends Circle

Danach II – Perspektiven (der Linken)?

Moshe Zimmermann, Prof. em. der Hebräischen Universität, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk zum Ausgang der Knessetwahlen:

„Die Tendenz in Israel, da geht es um die Erziehung und die Sozialisation, um die politische Dynamik, die Tendenz ist immer weiter nach rechts, immer mehr nationalistisch, immer mehr gegen die arabische Minderheit innerhalb des Staates Israels, immer mehr für eine Fortsetzung der Annexion der Westbank.“

 

Danach – Über das Ende der zionistischen Linken …

In einem Beitrag für das 972Magazine geht der Journalist, Blogger und Übersetzer Edo Konrad der Frage nach dem Niedergang der zionistischen Linken bei den Wahlen in Israel nach. Er kommt zu dem Schluß, daß die Meretz-Partei, aber mehr noch die Arbeiterpartei sich nicht entschieden für eine Politik der Gleichheit und Inklusion sowohl innerhalb der Partei wie auch gegenüber den Palästinensern stark gemacht hätten. Der Vorsitzende Avi Gabbay gehört zwar der Mizrahi-Minderheit an, verlor aber durch seine  Politik im sozialen Bereich bei den traditionellen Labour-Wählern. Zugleich ließ sich der gesamte Linksblock in der Frage der Okkupation in eine defensive Position drängen, die ernsthafte Alternativen für einen neuen Friedensplan und gegenüber dem rechten Nationalismus nicht mehr möglich machte.