Moralischer Imperativ?!

Von Marianne Zepp, Berlin

Die offizielle Gründungserzählung Israels geht so: Nach der Verabschiedung des Teilungsplans durch die VN haben die Palästinenser ihre Dörfer in dem Israel zugesprochenen Gebiet aus freien Stücken verlassen, nicht zuletzt auch aufgrund feindlicher Propaganda der arabischen Staaten.

Die palästinensische Überlieferung ist eine andere. Sie ist eine des Verlustes, der gewaltsamen Vertreibung. Diese palästinensische – unoffizielle – Erzählung der Vertreibungskatastrophe, der Nakba, existierte im offiziellen Gedächtnis Israels nicht. Erst seit in den 80er Jahren die sogenannten neuen Historiker begannen, in den Archiven nach Quellen zur Gründungsgeschichte zu suchen, wurde diese offizielle Verdrängungsgeschichte fragwürdig. Bahnbrechend dabei war die Studie von Benny Morris „The Birth of Palestinian Refugee Problem 1947-1949“ (1988), worin er sich maßgeblich auf Archivalien aus dem Yad Yaari Archiv in Givat Hariva stützte. Sie dokumentieren darin die von den Israelis forcierten Vertreibungen der Palästinenser und von einzelnen Einheiten begangene Kriegsverbrechen.

Als eine junge Forscherin, Tamar Novick, einzelne Dokumente, die Morris seiner Studie zugrunde gelegt hatte einsehen wollte, waren diese unter Verschluss. Die von der linken Zeitung Ha’aretz unternommene Untersuchung ergab, dass seit ungefähr einem Jahrzehnt eine Abteilung des Verteidigungsministeriums damit beschäftigt ist, Dokumente der an den Palästinensern begangenen Verbrechen für die Forschung unzugänglich zu machen. Das betrifft offizielle, von der IDF 1948 erstellte Untersuchungsberichte ebenso wie Zeitzeugenaussagen und Berichte. Von Seiten des Verteidigungsministeriums wird der Zugriff auf diese historischen Dokumente mit der Sorge um das Ansehen des Staates und seinen Sicherheitsinteressen gerechtfertigt.

Wirklich? Handelt es sich nicht lediglich um einen weiteren Versuch dieser Regierung ihre Interpretation der Geschichte durchzusetzen? Demgegenüber setzt ein Teil der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft Israels die Forderung nach einer offenen Auseinandersetzung über das den Palästinensern angetane Unrecht. Es geht dabei auch um Anerkenntnis, ohne die eine Konfliktaushandlung nicht möglich ist.

Doch es geht auch um mehr: um die Moral einer Gesellschaft, im Falle Israels um den moralischen Imperativ, der der Gründung des Staates zugrunde lag, nicht mehr und nicht weniger.