Das Aida-Flüchtlingslager liegt mitten im Stadtgebiet von Bethlehem und ist doch davon getrennt: Seine Bewohner sind wegen ihres nach wie vor bestehenden Flüchtlingsstatus’ keine Bürger der Stadt und haben bei den Kommunalwahlen kein Stimmrecht. Sie sind Palästinenser, werden aber dennoch von vielen Bethlehemer Bürgern als Bewohner 2. Klasse betrachtet. Sie haben eine Bewohnervertretung, doch die verfügt nur über ein sehr geringes Budget, das höchstens dafür ausreicht, z.B. mal eine Straße auszubessern. Sämtliche Schulen werden von der UNRWA betrieben.
Am ‘Großen Schlüssel’ über dem Eingangstor zum Aida-Camp erwartet mich Ahmad, Projektmanager von “Sounds of Palestine”, ein freundlicher, sensibler junger Mann. Der grosse Schlüssel über dem Eingangstor steht für all die Schlüssel der Familien, die 1948/49 aus ihren Heimatorten im jetzigen Israel flüchten mussten oder aus ihren Häusern vertrieben wurden. Sie alle haben diese Schlüssel noch immer, das Symbol ihres Traums von der Rückkehr. Auf einer schwarzen Wand neben dem Tor haben die Bewohner des Camps mit weißer Farbe die Namen der Kinder aufgelistet, die in den vergangenen Jahren getötet worden sind, mit ihrem Todestag.
“Sounds of Palestine” arbeitet in den drei Kindergärten der nebeneinander liegenden Camps Aida und Al’Azzeh und in der Grundschule, die die Kinder beider Camps gemeinsam besuchen. In dem Kindergarten, den ich besucht habe, sitzen in einem ca. 5×3 m grossen Raum etwa 30 Kinder dichtgedrängt in einem Kreis auf dem Boden. Mit Hingabe und Begeisterung singen sie ein Lied, das zu einfachen Bewegungen einlädt. Fabienne, musikalische Leiterin des Projektes, begleitet sie mit ihrer Gitarre und fordert sie fröhlich immer wieder auf, laut und deutlich zu singen. Unterstützt wird sie dabei von Mustafa, einem Sozialarbeiter, der mit darauf achtet, dass alle Kinder bei der Sache sind bzw. sich um einzelne kümmert, die besonders viel Zuwendung brauchen. Es ist eine Freude zu sehen, wie glücklich die Kinder singen. Zugleich legt sich in den Pausen bei Fabiennes nächsten Ansagen immer wieder ein Schatten über die Gesichter; die Wirklichkeit um sie herum holt sie ein. Fabienne lädt die Kinder ein aufzustehen. Singend dürfen sie sich nun frei durch den Raum bewegen. Am Ende der Stunde singen sie ein Abschiedslied, in dem nacheinander die Lehrerin, der Sozialarbeiter und dann die Kindergruppe als Ganzes verabschiedet werden. Dann stellen die Kinder sich zu einer Polonaise auf und verlassen singend den Raum. Drei solche Kindergruppen gibt es mittwochs und donnerstags in diesem Kindergarten. Die Leiterin des Kindergartens ist froh über diese Chance.
Auf dem Weg zu der UNRWA-Schule, in der Sounds of Palestine arbeitet, erfahre ich von Ahmad, dass er im Al’Azzeh Camp geboren wurde und hier aufgewachsen ist. Dank eines Stipendiums konnte er in die Terra Sancta Schule gehen und sein Abitur machen. Ahmad hat seinen BA in Sozialarbeit an der Universität Bethlehem und anschliessend – erneut mit einem Stipendium von Terra Sancta – seinen MA in Malta gemacht. Er hat fünf Kinder, die ältesten drei machen im Musikprojekt mit, eine Tochter und ein Sohn spielen Cello und ein weiterer Sohn spielt Geige.
Ahmad entschuldigt sich für sein häufiges Augenblinzeln. Es gibt häufig Tränengas-Schwaden, die von in der Nähe stattfindenden Zusammenstößen herüber wehen und diese Reaktion der Augen hervorrufen. Eine UNRWA-Schule musste die Fenster in einer Wand zumauern, weil immer wieder Querschläger aus Gewehren in Klassenzimmern einschlugen. Am Tag zuvor wurde ein 7-jähriger Junge aus dem Lager verhaftet und ein Erwachsener, der ihm helfen wollte, gleich mit.
Sich jeden Morgen neu zu motivieren, jeden Morgen aufs Neue die Hoffnung in sich zu nähren, dass bessere Zeiten möglich sind, das sei für das Team die größte Herausforderung. Dass er und die Mitarbeiter von Sounds of Palestine den ihnen anvertrauten Kindern einen sicheren Ort eröffnen, in dem sie Freude am Singen, Musizieren und Dabka-Tanzen erleben, das helfe ihnen, mit ‘der Situation’ umzugehen. Dass sie sehen können, wie die Kinder Verantwortungsbewusstsein, Selbst-Disziplin und innere Stärke entwickeln, das gebe ihnen immer wieder die Kraft weiterzumachen.
In der Grundschule finden die Aktivitäten am Nachmittag statt, nachdem der Unterricht beendet ist. Fabienne stellt ihr Cello in den größten Klassenraum, in dem später die Orchesterprobe stattfinden wird. Mustafa bringt zusammen mit zwei Drittklässlerinnen die Notenständer und etliche Celli in den Raum. In den nächsten 1 ½ Stunden werden ca. 20 Drittklässler in einigen Klassenräumen in kleinen Gruppen reihum Cello-, Geigen-, Kontrabass- und Xylophon-Unterricht erhalten. Sie üben das, was anschließend im Orchester geprobt wird. Die anderen machen in dieser Zeit unter Aufsicht der Sozialarbeiter ihre Hausaufgaben.
Höhepunkt des Nachmittagsprogramms ist die Orchesterprobe. 20 Jungen und Mädchen mit ihren Celli, Geigen, Kontrabässen und Xylophonen bilden ein richtiges Orchester im Halbkreis. Der Xylophonlehrer, der Geigenlehrer und die Kontrabasslehrerin achten mit darauf, dass ihre Schützlinge sich gut ins Orchester einfügen; Fabienne, die Cellistin und Leiterin, dirigiert. Eine tiefe kindliche Traurigkeit spricht aus den Körpern der Kinder, und zugleich eine große Sehnsucht nach Hoffnung, Freude und Licht. Sie ergreifen die Chance, die die Musik ihnen bietet und spielen voller Hingabe und mit erstaunlicher Disziplin. Wieder und wieder motiviert Fabienne sie, genau aufeinander zu horen, genau auf Einsätze zu achten. Und als Zuhörer beginnt man zu begreifen, wie lebenswichtig der Musikunterricht für diese Kinder geworden ist. Morgen wird der Dabka-Unterricht für alle Zweit- und Drittklässler stattfinden, und es wird ebenfalls für alle Zweit- und Drittklässler erneut Instrumentalunterricht geben für Cello, Geige, Kontrabass, Klarinette und Tabla.
Mustafa räumt mit einigen Kindern die Instrumente und Notenständer weg. Auch er ist im Aida Flüchtlingslager aufgewachsen und in denselben Kindergarten und dieselbe Grundschule gegangen, in denen jetzt die Sounds of Palestine-Aktivitäten stattfinden. Sein ganzer Körper strahlt Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft aus – er ist glücklich darüber, dass er bei Sounds of Palestine dazu beitragen kann, Kindern einen sicheren Ort zu bieten, in dem sie sich frei und ohne Angst entfalten können. Was für ihn als Kind unerreichbar war, kann er jetzt tun: Er lernt Klarinette zu spielen und macht – so Fabienne – große Fortschritte.
Mehrere Konzerte werden die Kinder im laufenden Schuljahr geben: für die Eltern und manchmal auch für Besuchergruppen. Dort erleben vor allem die Mütter, aber auch Väter, was in ihren Kindern steckt. Sie sind häufig überrascht und stets stolz auf ihre Kinder – ein Hoffnungsstrahl in dieser von Gewalt und Traurigkeit getränkten Region.
Weitere Informationen unter: http://www.soundsofpalestine.org
Copyright: Ulla Philipps-Heck, November 2015