Von Marianne Zepp
Das Verhältnis des Staates Israel zum Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag war nie eindeutig und im Laufe seiner Geschichte einigen Wechseln ausgesetzt.
In den Jahren nach der Shoa und den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg wurde international nach Wegen und Möglichkeiten der rechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen und der Implementierung von Menschenrechtsstandards in kriegerischen Konflikten gesucht.
Israel gehörte mit zu den Unterzeichnern des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, eine Entscheidung, die es allerdings 2002 widerrief. Damit erkennt Israel – u.a. neben den USA, China und Rußland – den ICC (und seine Zuständigkeit) nicht an.
Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, ein Verfahren wegen des Verdachts von Kriegsverbrechen gegen Israel und Palästina zu eröffnen, wurde lange vorbereitet, nicht zuletzt vorangetrieben durch die Palästinensische Autonomiebehörde. So unterstützt die palästinensische Seite die Vorbereitungen des ICC seit Jahren mit Dossiers und Dokumentationen.
Palästina gehört seit 2015 zu den insgesamt 120 Vertragsstaaten des ICC. Ihr Beitrittsersuchen wurde durch den Status eines Beobachterstaates bei der VN vorbereitet und letztendlich ermöglicht.
Verbunden mit dem angestrengten Verfahren ist die Hoffnung der Palästinenser, daß Menschenrechtsverletzungen während des siebenwöchigen Gazakrieges 2014, der gewaltsamen Auseinandersetzungen an der Grenze zu Gaza im Frühjahr 2018 und durch den Siedlungsbau in der Westbank und in Ostjerusalem offengelegt werden. Auch die Hamas im Gazastreifen, selbst Gegenstand von Untersuchungen über den Beschuß israelischer Dörfer und Städte, der Entführung, Folterung und Ermordung israelischer Soldaten, zeigte sich offen und erkennt die Rechtmäßigkeit des Vorgehens des ICC an.
Offensichtlich ist der Preis nicht zu hoch dafür, daß der Weltöffentlichkeit die Unrechtmäßigkeit der israelischen Besatzungspolitik erneut vor Augen geführt wird und Palästina als quasi staatlicher Akteur im Spiel ist. Daß dabei gleichzeitig die Hamas wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt ist, scheint weniger ins Gewicht zu fallen, zumal diese Übergriffe und Vergehen als „legitime Widerstandshandlungen“ von Seiten der Palästinenser gedeutet werden.
Für Israel ist damit der seit längerem befürchtete worst case eingetreten, oder wie das israelische Onlineportal Walla es formulierte: Die palästinensische Nuklearoption gegen Israel wurde gezündet. Netanyahu sieht darin „reinen Antisemitismus“ von Seiten eines Gerichtshofs, der eingerichtet worden sei, weil aus den Shoa Lehren gezogen werden sollten. Es wende sich nun gegen den jüdischen Staat selbst. Die Widersprüchlichkeit dieser Aussagen beruhen auf der Überzeugung der historischen Aufgabe als jüdische Nation, und damit als Heimstatt aller Juden zu gelten, gerecht werden zu müssen.
Als die offiziellen Ermittlungen vor wenigen Tagen eröffnet wurden, löste dies eine neue Welle der Empörung in Israel aus. Der Vorwurf der Einseitigkeit und der „Politisierung des internationalen Rechts“ steht im Raum. Wenn Netanyahu darin zugleich eine Strategie zur grundlegenden Delegitimierung des jüdischen Staates und seines Rechtes zur Selbstverteidigung sehen will, nutzt er – und mit ihm die gesamte israelische Rechte – ein aus dem religiösen und ethnischen abgeleitetes Selbstverständnis der ‚israelischen Nation‘. Souveränität und militärische Macht stellen den Kern dieses Selbstverständnisses dar. Netanyahu spielt dieses Grundsentiment des israelischen Nationenverständnisses voll aus, wenn er denunziatorisch dem ICC unterstellt, allein die Existenz eines jüdischen Staates als Kriegsverbrechen anzusehen.
Die israelischen Menschenrechtsorganisationen wiederum sehen die Chance einer Kursänderung. Die erneut nun auf internationaler Bühne zu verhandelnden Auswirkungen der israelischen Besatzung und die Thematisierung ihrer Völkerrechtsverletzungen könnte, so die Hoffnung, eine Wende einläuten. Die Besinnung auf humanitäre Werte, die Thematisierung eines Okkupationsregimes, das der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank und in Gaza, fundamentale Rechte verwehrt, soll, so die Hoffnung, eine neue Dynamik innerhalb Israels und in der internationalen Öffentlichkeit freisetzen.
Die Anklagen des ICC beziehen sich auf Einzelpersonen, nicht Staaten. Das Argument der israelischen Regierung, Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen durch einzelne Soldaten innerhalb der eigenen rechtsstaatlichen Ordnung bereits verfolgt zu haben, trifft nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen wie Breaking the Silence, Adalah oder B’Tselem nicht die wirklich Verantwortlichen. Und es berühre nicht das Grundproblem der israelischen Politik, die Besatzung.
Bis es zu substantiellen Anklagen kommt – und ob dann auch hochrangige Verantwortliche sich dem Gericht stellen müssen -, wird allerdings noch einige Zeit vergehen.