Am 3. September zum 1. September, Weltfriedenstag
„Das Gedächtnis der Menschheit“ von Daniela Dahn
Wird es möglich sein, Menschen für einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu mobilisieren, den man Fortschritt nennen könnte? Für meine Vorstellung von Vernunft – eine friedliche, auf Gemeinwohl ausgerichtete Ordnung, in der die bürgerlichen Freiheiten garantiert sind, weil die Demokratie auch die Wirtschaft erfasst? Der ökologische Umbau kann nicht ausgesetzt werden, um in einem verheerenden Abnutzungskrieg gegen Mensch und Natur auf Sieg zu hoffen. Doch die Staaten geben unbelehrbar einen immer kleineren Bruchteil für die Bewahrung des Klimas aus als fürs Kriegswesen.
„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer», mahnte Bertolt Brecht beim Völkerkongress für den Frieden in Wien 1952. Haben die Regierungen und deren Wähler seither nichts dazu gelernt – sind sie gar hinter den Erkenntnisstand nach dem letzten Weltkrieg zurückgefallen? „Lasst uns die Warnungen erneuern,“ fuhr Brecht fort, „und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen, ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“
Krieg verlernen – was für eine überlebenswichtige Aufgabe der Menschheit, nicht nur für Pazifisten. Nach der Friedensvision des Propheten Micha wird der Streit zwischen den Völkern geschlichtet. Diese wunderheilsame Überzeugungskraft wird im Alten Testament dem zu erwartenden Messias zugeschrieben, der das Abrüstungsgebot zuerst in Israel, dann in der ganzen Welt durchsetzen wird. Daraufhin schmieden alle ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern um. Kein Volk greift mehr das andere an. Alle wohnen unter ihrem Weinstock und Feigen-baum, niemand schreckt sie. Nach etwa 3 000 Jahren sehnsuchtsvollen Hoffens sollte klar sein: Die Wartezeit ist abgelaufen! Die dem Messias zugeteilte Arbeit ist in Wahrheit unsere Arbeit.
Daniela Dahn ist Buchautorin. Der Text ist entnommen aus: „Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes“. Dies ist ein Beitrag in: Zeitung gegen den Krieg, Nr. 60/2025, S. 4. Die „Zeitung“ ist mit weiteren interessanten Beiträgen vollständig online zu lesen.

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